
Das älteste Werkzeug der Welt
So, wie Menschen und ihre Welt schon immer komplex gewesen sind, waren und bleiben gute Werkzeuge: einfach.
Ein einfaches Werkzeug ist robust – oft auch im praktischen, unmittelbaren Sinn: Es geht nicht so schnell kaputt. Vor allem aber ist ein einfaches Werkzeug robust im weiteren Sinn: Es bleibt nützlich, auch, wenn die Welt sich verändert. Ein gutes Werkzeug kann und wird von vielen verschiedenen Menschen benutzt werden. Es versucht nicht, die Komplexität der Welt in sich abzubilden, denn das kann es immer nur zu kompliziert machen. Stattdessen stellt das Werkzeug eine Übersetzung her: Zwischen der komplexen Welt und dem Besten, was wir haben, um damit umzugehen: Uns selbst.
Veränderungen am Werkzeug, Veränderungen durch das Werkzeug
Dabei verändern wir unser Werkzeug. Durch tausendfachen Gebrauch machen wir es besser – und persönlich. Unsere liebsten, unsere besten Werkzeuge erkennen wir an den Gebrauchsspuren und den eigenen kleinen Verbesserungen, die wir daran vorgenommen haben – statt an der zentimeterdicken Anleitung voller Warnhinweise, die alle Anwendungsfälle vorausahnen will und uns abschreckt, unser Werkzeug überhaupt je in die Hand zu nehmen. Und wer gute und passende Werkzeuge hat, der braucht davon nicht viele; ein guter Werkzeugkoffer ist klein und leicht. Er macht seinen Besitzer frei, denn: Er muss sich nicht darum kümmern, einen riesigen Gerätepark anzuschaffen, zu pflegen, zu überschauen und zu beherrschen. Stattdessen ist er nah an der Aufgabe – und an anderen Menschen: Gute Werkzeuge erleichtern das Zusammenarbeiten. Sie ermöglichen intuitives Lehren und Lernen: Direkt an der Aufgabe, im schnellen und persönlichen Pingpong von Schüler und Lehrerin, die diese Rollen ebenso schnell hin- und hertauschen können. Gute Werkzeuge verbinden Aufgaben und Menschen, statt sie voneinander fernzuhalten.
Das älteste Werkzeug der Welt
Werkzeuge verhalten sich also analog der Aufgaben, zu denen sie gehören: Je offener, je umfassender, je weniger spezifisch beide sind, desto länger überdauern sie, desto mehr Einfluss hat jeder einzelne Mensch. Der Prototyp dafür ist das Messer: Es dient dem Zerteilen, einer Aufgabe, die offensichtlich so alt ist wie die Menschheit selbst. Damit ist auch das Werkzeug zu dieser Aufgabe, das Messer, eine Menschheitskonstante. Und: Der virtuose, der individuelle und der moralische Gebrauch sind hier offensichtlich vom Menschen abhängig. Ernten, Schnitzen, Filetieren, Töten – wozu das Messer dient und mit welchem Erfolg, darüber entscheidet nicht das Messer, sondern seine Benutzerin.
Darin ist angelegt, dass die Organisation, die eine echte Aufgabe mit guten Werkzeugen bearbeitet, nicht auf Steuerung und Kontrolle setzen kann – sondern auf Kommunikation setzen muss, auf Beteiligung und Kooperation. Anders ausgedrückt: Eine Gesellschaft, die Messer nicht verbieten will, muss sich über den Umgang mit Messern einigen. Einer guten Organisation sind nicht die Werkzeuge heilig, sondern die Menschen. Sie sind Bezugspunkt und Maßstab. Nicht die Organisation selbst soll überdauern, sondern die Menschen.
Die Organisation als Werkzeug
Letztlich ist auch die Organisation selbst ein Werkzeug: Ist sie einfach und offen, macht sie Menschen frei und wirkungsvoll. Ist sie dagegen kompliziert und unzugänglich, wird sie zum Selbstzweck, der die Menschen quält. Das schiere Beherrschen der Organisation oder wenigstens das Überleben darin wird zur tages- oder gar lebensfüllenden Aufgabe. So, wie wenn wir mitten im Durcharbeiten der zentimeterdicken Anleitung von oben irgendwann vergessen haben, zu welchem Zweck wir das Werkzeug überhaupt angeschafft haben. Nur, dass im Fall der Organisation die „Anleitung“, das Skript der Organisation, auch noch stetig umgeschrieben wird, während wir versuchen, es zu entziffern. Wir landen in einem – manchmal rasenden – Leerlauf: Das eigene Sein und Handeln beziehen sich nur noch auf die Organisation und reißen von der Welt ab. Das Schicksal der Organisation und das eigene werden eins, die Abhängigkeit existentiell.
Mit der guten Organisation dagegen sind die Mitglieder über ihre eigene und die Aufgabe der Organisation verbunden. Es ist klar, was die Organisation in für die komplexe Welt bewirken soll. Und, wie sie funktioniert, um ihren Mitgliedern diese Wirkung zu ermöglichen. Zwar verändert sich die Organisation mit jedem Mitglied, das dazukommt oder geht, aber auch die Organisation selbst hängt nicht existentiell von einem Mitglied ab: Solange ihre Aufgabe für die Menschen fortbesteht und sie zu deren Erfüllung ein gutes Werkzeug ist, wird es sie weiter geben. Wenn auch nicht so lang wie das Messer.